Donnerstag, 15. Oktober 2015

besucht [Akademietheater] ... Granden und Junge harmonisch für ein traumhaftes Stück Haderlap

Manchmal sieht man vor lauter Bäumen den Wald gar nicht mehr. Oder will man ihn eigentlich sehen? In Maja Haderlaps großartigem autobiografischen Roman "Engel des Vergessens" könnte zweiteres vorteilhaft sein. Eindringend in die Hirnwindungen, entfaltet eine scheinbare Heimatidylle mit Kindern, Gänse rupfen, kumpeligen Nachbarn, lieben Großmüttern immer mehr und immer furchtbarere Vergangenheiten. Ja, Plural, denn hat nicht jeder seien eigene Vergangenheit und somit auch ein jeder seine eigene Wahrheit?


Die gelungene Umsetzung des schwierigen Textes war für Mrs. Hyde beim Besuch der Theaterfassung im Wiener Akademietheater die größte Sorge. Hätte leicht zu klamaukig, zu "hoamatig", zu anklagend werden können. Doch es ist gelungen, sehr gut sogar! Haderlap, selbst gelernte Dramaturgin, nahm sich unter großen Schmerzen, wie man lesen konnte, ihres eigenen Textes an und gestaltete (zusammen mit Georg Schmiedleitner) die Bühenfassung selbst mit. Hut ab für den Mut!

Erstaunlich ist: die Protagonistin nimmt sich gleichsam zurück in der Autobiografie, gleichsam setzt sie sich extra in Szene, indem sie als "Ich 1" (ein junges Mädchen) und "Ich 2" (die Studentin, die nur noch gelegentlich nachhause zurückkehrt) an den Rand des Geschehens und selten auch in die Mitte stellt.

Vorzüglich gespielt, besonders auch von "Vater" (Gregor Bloéb!) und "Großmutter" (Elisabeth Orth!), wird uns die Geschichte und Geschichten mancher Kärntner Slowenen erzählt, die sich für ihr Vaterland Österreich im 2. Weltkrieg als gegen Partisanen gegen die Nazis gestellt haben. Oder als Nazis gegen das Vaterland? Oder als Partisanen gegen das nicht mehr existierende Österreich und für Slowenien?


(Foto: die mit dem Bachmann-Preis ausgezeichnete Autorin Maja Haderlap; gesehen auf: www.erinnern.at)


War einer Spitzel, Opfer oder Täter? Oder alles drei zugleich? Musste einer um sein Leben rennen oder wurde er auf dem Weg zum Jäger? Die Vergangenheiten sind schwer durchschaubar, manchmal schieben sich alle Zeiten in einander und machen es unmöglich zu entwirren was einmal war und jetzt noch ist. Das Sichtbare ist die Beschädigung, die diese Unklarheiten und die damit immer verbundenen Leiden in den Menschen selbst und sogar in weiteren Generationen hervorrufen.


(Foto: die Familie und Nachbarn in "Engel des Vergessens", die das "Früher" auch erlebt haben, jeder ein anderes; rechts im Rollstuhl der Vater (Gregor Bloéb); gesehen auf: www.burgtheater.at)


Ist der Vater ein Böser (weil er nie was auf die Reihe kriegt und sich vor versammeltem Dorf absichtlich zum verlachten Deppen macht, wie die religiöse Mutter meint) oder doch ist die Mutter (eine verkappte Ziege, wie der Vater meint, die nur nörgelt und schimpft und einzig vor der Großmutter kuscht, über deren Tod sie dann doch schluchzen muss)? Hat die Großmutter durch ihren Aberglaube über Ausräucherung, Heilsprüche und Handauflegen das KZ überlebt oder kam der Aberglaube danach?


Äußerst lesenswertes Stück schwieriger Heimatgeschichte und ein äußerst sehenswertes Bühnenstück obendrein! Sehr gelungen!

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